Er war alt, ging gebückt und konnte ohne seine Brille kaum noch etwas sehen. Trotzdem war er im Kopf, wie mein Vater immer sagte, topfit und seine Augen sprachen Bände über das viele Wissen, das er im Laufe seines langen Lebens bereits angehäuft hatte. ,,Gentleman", sagte er nur und begutachtete den Menschenauflauf vor seinem Haus ruhig. ,,Martha", rief er in sein Haus hinein. ,,Sie können nun rauskommen, Sie haben nichts zu befürchten." Eine junge Frau trat schüchtern aus der Praxis. Ihr krauses, schwarzes Haar war zu einem Zopf gebunden. Ihre großen, braunen Augen blickten voller Angst in die Menge. Dann nahm sie die Hand des alten Mannes in beide Hände und drückte sie.
,,Signore Alberto, bist du sicher, dass du das alleine schaffst?", fragte sie mit spanischem Akzent. Jedenfalls vermutete ich, dass es ein spanischer Akzent war, immerhin konnte ich kein Spanisch und hatte keine Ahnung von spanischen Akzenten. ,,Ich könnte meinem Vater Bescheid sagen, im Handumdrehen stehen hier vierzig Mann!" Alberto lachte heiser. ,,Keine Sorge, Martha. Ich komme ganz wunderbar klar. Gehen Sie jetzt am besten. Auf Wiedersehen." Martha zögerte noch kurz. Dann nickte sie. ,,Muchos gracias signore, ich und pequeño Pablo werden dir immer dankbar sein!" Erst jetzt sah ich, dass sie ein kleines Baby im Arm trug. Trotzdem konnte ich mir noch immer keinen Reim auf die Sache machen.
,,Wie rührend", knurrte der Mann, der schon zuvor an Albertos Tür geklopft hatte. Es musste der Hauptmann oder ein anderes hohes Tier in der Garde sein, jedenfalls trug er ein königsblaues Abzeichen mit dem Wappen darauf. ,,Sind Sie dann soweit?" Doktor Alberto ignorierte ihn einfach und wandte sich nun mir zu. ,,Ezra, schön, dich zu sehen. Was kann ich für dich tun?" ,,Äh..." Einige Soldaten starrten mich an. Langsam bewegte ich mich zu Alberto, um mich nicht komplett schutzlos zu fühlen. ,,Ich..." ,,Schon gut, die Herren hier wirken wahrscheinlich etwas einschüchternd. Verständlich." Er warf ihnen einen vorwurfsvollen Blick zu. ,,Komm doch rein." Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war mir sicher, dass das Behandeln der königlichen Garde wie Luft in irgendeinem Gesetz unter Strafe stand, aber der Doktor wusste, was er tat. Glaubte ich zumindest.
Gerade, als ich die Praxis betreten wollte, packte mich jemand an der Schulter. Ich fuhr herum. Die Soldaten hatten anscheinend die Nase voll. Zwei von ihnen hatten sich Alberto geschnappt. Ein bisschen übertrieben vielleicht. Er war mindestens zwei Köpfe kleiner als sie und sah nicht aus wie jemand, der irgendwem etwas zuleide tat. Ich versuchte mich aus dem Griff zu lösen, doch der Soldat schien einen Schraubstock oder so als Hand zu haben. Anstatt ihn zu lockern, tat es nur noch mehr weh.
,,Geht doch. Warum denn nicht gleich so." Der Hauptmann sah mit einer Mischung aus Hohn und Zufriedenheit auf den Dorfarzt hinab, dann kramte er in seiner Tasche. Panik stieg in mir auf. Konnte er mich nicht wenigstens gehen lassen? Immerhin hatte ich doch nichts getan. Wobei ich mir nicht vorstellen konnte, dass Doktor Alberto etwas getan hatte. Verdammt, was war das hier überhaupt?
Der Hauptmann schien endlich gefunden zu haben, was er gesucht hatte: Eine Pergamentrolle mit Siegel des Königs, die ziemlich wichtig aussah. ,,So schreibt König Léonas, seine königliche Majestät, Herrscher über Maurien und die Neeider; Ein jeder, der nachweislich dunkle Magie betreibt oder anderweitig mit dem Teufel im Bunde ist, wird mit nicht weniger als dem Tode bestraft. Denn jene sind das wahre Böse, sie haben uns Unglück gebracht und sie gilt es, zu finden und zu richten." Er sah von dem Schriftstück zu Alberto. ,,Ihr seid der Hexerei angeklagt, alter Mann. Ich denke Ihr wisst, was das bedeutet. Entweder sie gestehen, oder-"
Er sprach es nicht aus. Warum auch, jeder wusste, was mit potentiellen Hexen passierte. Denn zur Verurteilung war ein Geständnis nötig. Und wenn nicht gestanden wurde, wurde man eben dazu gebracht, zu gestehen. So einfach.
Ich fühlte mich, als würde mein Magen sich umdrehen und ich mich jeden Moment übergeben. Hilfesuchend ließ ich meinen Blick über die Soldaten schweifen, in der Hoffnung, Nate zu finden. War er abgehauen? Nein. Zum Glück nicht. Aber seinem Gesicht nach zu urteilen, war er kurz davor. Er war auf halber Strecke auf der Straße, die ich hinuntergerannt war und kam langsam auf uns zu.
,,Gut, Sie scheinen es nicht anders zu wollen. Abführen", kommandierte der Hauptmann zu seinen Männern. ,,Und was die angeht-", -er deutete auf mich- ,,Sie wird in den Zeugenstand genommen. Ihre zwielichtigen Geschäfte sind vorbei, Monsieur."
,,He, wartet!", Nate hatte wohl doch noch beschlossen, sich einzuklinken. Zum Glück, denn ich brachte kein Wort mehr heraus. Es fühlte sich alles so surreal und falsch an. Alberto war vielleicht kein Heiliger, aber er würde niemals irgendwem etwas böses tun. Und mit dem Teufel verbündet sein... Bitte, ich hatte noch nie etwas lächerlicheres gehört.
,,Ich kenne Doktor Alberto, ich kann Ihnen versichern, dass er nichts mit den dunklen Künsten zutun hat. Wir... ich war seit ich denken kann regelmäßig bei ihm, er hatte nie schwarze Magie angewendet." ,,Ist das so." Der Hauptmann musterte Nate mit Argwohn. ,,Nun. Wir haben Beweise. Mindestens ein Dutzend Frauen, die bereit sind, gegen ihn auszusagen. Ein Dutzend Frauen, die eurem Doktor vorwerfen, ihre Säuglinge auf grausamste Art dem Satan geopfert zu haben. So steht nun Aussage gegen Aussage. Und für ihn sieht es schlecht aus, zumal der Haftbefehl von ganz oben kommt." Dieses gespielte, sarkastische Mitleid in seiner Stimme war einfach ekelhaft. ,,Ich bitte Sie, das ist doch lächerlich", seufzte Alberto. Im Gegensatz zu mir war er die Ruhe selbst.
,,Schweig", knurrte der Soldat, der links von ihm stand. ,,Aber-", wollte Nate noch einwerfen. ,,Genug! Abführen, zum zweiten Mal verdammt."
Was danach passierte, kann ich weder richtig einordnen noch erklären. Adrenalin schoss durch meinen Körper, so viel Adrenalin, wie ich noch nie verspürt hatte. Ich machte mich von dem Soldaten los, zwei weitere stürmten auf mich zu. Zur Abwehr riss ich meine Arme herum um sie aufzuhalten. Wegzustoßen. Mich irgendwie zu wehren. Dabei schoss etwas blaues aus meinen Handflächen, grell wie ein Blitz. Es brannte furchtbar und ich kniff aus Reflex die Augen zusammen, um nicht an Ort und Stelle zu erblinden. Zischende Spannung übertönte alles, ein ohrenbetäubendes Knistern war für eine gefühlte Ewigkeit alles, was ich hörte.
Der Druck schleuderte mich zurück und ich knallte gegen Albertos Hauswand. Langsam spürte ich, wie Dunkelheit sich vor mein Sichtfeld schob. Ich versuchte mich zu konzentrieren, auf das letzte bisschen Licht zu fokussieren, dass da noch war.
Irgendwie schaffte ich es, aufzustehen. Mein Kopf tat verdammt weh, ebenso wie meine Hände, die sich anfühlten, als hätte ich mir schwere Verbrennungen zugezogen. Vorsichtig öffnete ich meine Augen und erstarrte. Die Soldaten, die sich noch vor wenigen Sekunden vor mir aufgebaut hatten, krümmten sich nun am staubigen Boden, der schwarz wie nach einem Brand war. Doktor Alberto lag reglos da. Und Nate... Er stand einige Meter, in sicherer Entfernung und starrte mich einfach nur an. Und da wurde mir klar, was ich gerade getan hatte.
Panik stieg in mir auf. Blanke, eiskalte Panik. Das, was ich gefühlt hatte, während der Soldat mich an der Schulter gepackt hatte, war kein Vergleich dagegen. Während mein Atem sich beschleunigte, verschwamm meine Sicht. Keine Tränen. Es waren keine Tränen. Ich heulte nicht. Nie.
Ich starrte auf meine Hände. Zu den Tränenschleiern, die sich vor meinen Augen gebildet hatten, kam noch, dass sie zitterten. Wahnsinnig zitterten. Langsam wanderte mein Blick von ihnen hoch zu meinem eigenen Grab, das ich mir soeben geschaufelt hatte.
Der Hauptmann, der sich, noch immer verkrampft, langsam aufrichtete, fokussierte mich. Seine Augen waren schockgeweitet und sein Gesicht schmerzverzerrt. Dieser Schmerz spiegelte sich auch in seiner Stimme wider, als er zitternd, aber so laut, dass garantiert auch der letzte Dorfbewohner in dieser Straße es mitbekommen würde rief: ,,Hexe! Ergreift die Hexe!"
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